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1. Einleitung
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2. Der unfehlbare Gesetzgeber
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3. Die authentιschen »Zeugnisse«
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4. Erweiterung und Durchforschung
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5. Einige notwendige Årgänzungen
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6. Nachwort - Wunsch
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1. Einleitung
Manchmal sagen wir, dieser oder jener Mensch denke,
spreche oder handle nicht richtig. Oder wir sagen, daß
jemand »unorthodox« sei. Wie kommen wir zu diesem Urteil?
Und woher wissen wir, daß gerade unser Denken, unsere
Worte oder unsere Handlungen richtig - oder im Sinne des
griechischen Wortes - »orthodox« sind oder nicht? Oder
genügt vielleicht allein der gute Wille,
»orthodox« bzw. richtig handeln zu wollen, um
tatsächlich »orthodox« zu sein und richtig zu handeln?
Ebenfalls sagen wir heute des tifteren, daß unsere Zeit
von entscheidender Bedeutung sei. Warum sagen wir das?
Warum ist sie so »entscheidend«? Was gibt ihr diese
Bedeutung, und was bringt uns dazu, sie als entscheidend
zu betrachten? Welches ist das Kriterium, der Ìaßstab
unserer Gedanken, unserer Entscheidungen, unserer
Handlungen, unserer »Zeit«?
Ìan sagt, das Kriterium sei unser Denken, unsere
Vernunft, unsere Logik selbst. Wie aber kann denn unser
Denken unsere Gedanken beurteilen, um festzustellen, ob
sie richtig oder falsch sind? Und wie können wir wissen,
ob unser Denken auch richtig funktioniert? Wer
garantiert uns dafür? Und außerdem: Ist es denn richtig,
daß der, der urteilt, auch gleichzeitig der
Urteilsaßstab ist? Soll denn der Richter auch
gleichzeitig Gesetzgeber sein? Und wenn dies geschieht,
ist es dann sicher, daß er ein objektiver Gesetzgeber
ist? Wird er etwa nicht Gesetze machen, die
ubereinstimmen mit dem, was er entscheiden will? Und
wird er damit nicht vielleicht oft auch gegen seinen
Willen, in eine Diktatur, in einen Totalitarismus
verfallen? Doch nehmen wir einmal an, er könnte dieser
Versuchung widerstehen. Wie kann er sicher sein, daâ
sein Denken und damit auch seine Gesetze richtig sind?
Diese und ähnliche Fragen entstehen in jedem Menschen -
müssen in ihm entstehen. Jedenfalls haben wir das oft in
interessanten Gesprächen mit jungen Leuten, Studenten
und Wissenschaftlern erfahren. Deshalb kommt man
unweigerlich zu dem Schluß, daß wir einen unfehlbaren
Richter und unfehlbaren Urteilsmaâstab suchen und finden
müssen, mit dessen Hilfe wir unsere Gedanken, unsere
Worte, unsere Handlungen, die Ereignisse, die Zeiten usw.
beurteilen können.
Wir stellen fest, daâ ein unfehlbarer Richter unmöglich
unter den Menschen zu finden ist. Zunächst einmal ist
der Mensch weder allweise noch allwissend, noch kennt er
alles Geschaffene (Geschöpfe und Geschehnisse). Er kennt
es nicht, weil er die Velt nicht geschaffen hat und
unmöglich überall anwesend sein kann. Außerdem wurde
durch die Sünde die »Gottesebenbildlichkeit« des
Menschen befleckt und damit auch sein Geist, seine Logik,
sein Wünschen und Wollen. Darüber hinaus läßt er sich
von seinen Wünschen, seiner Umwelt, seinen Beziehungen
usw. mitreißen oder zumindest beeinflussen. Diese
ungünstigen Voraussetzungen haben negative Auswirkungen:
ein Mensch kann nicht immer objektiv, richtig und
gerecht urteilen und natürlich auch nicht entsprechend
in der Gesetzgebung wirken.
Aus diesem Grund sind die menschlichen Gesetze nicht
ewig und immergültig. Denn sie sind unvollkommen,
fehlerhaft und unzulänglich. So andern sie sich ständig.
Die Menschen bemühen sich zwar, immer richtigere, immer
vïllkommenere zu schaffen. Weil sie aber unvollkommen
sind, müssen sie ihnen vom Staat aufgenötigt werden. Oft
nehmen die Menschen sie nicht an, billigen sie nicht,
weil sie sie mit ihrer Logik beuerteilen und nicht
richtig finden; und dann begehren sie auf und wehren
sich gegen ihre Anwendung.
2. Der unfehlbare Gesetzgeber
Nur der, der alles geschaffen hat, der Schöpfer des
Weltalls, der allwissend und überall anwesend ist, der
umfassende Kenntnis aller Dinge hat, des Vergangenen,
Gegenwärtigen und Zukünftigen, nur er, der
unveränderlich, unbeeinflußt und unparteiisch ist, nur
er kann ein unfehlbarer Gesetzgeber und Richter sein.
Und für uns Christen ist dies Gott. Zum Guten steht es
also für uns nur dann, wennéô wir Gott fragen und Er uns
antwortet. Nur wenn Gott auf die Erde »herabsteigt«,
können wir Gewißheit haben, daß wir eine Ántwïrt
erhalten, ein unfehlbares, richtiges und unverfälschtes
Urteil.
Wann aber und wie könen wir Gewißheit haben, daß Gott
wirklich auf diese oder jene Frage geantwortet hat, daß
er also auf die Erde »herabgestiegen" ist?
Glücklicherweise ist dieses Problem für uns orthodoxe
Christen wohlgeordnet und geregelt. Wir müssen uns nur
darum bemühen, dies »uns und den anderen« zugänglich und
bewußt zu machen.
a) Wir erkennen, daß Gott durch Moses und die Propheten
wie durch andere erleuchtete Männer des Alten Testaments
gesprochen und Sein Zeugnis, Seine Gebote, Seine Gesetze,
Sein Urteil bekannt gemacht hat. Wir sollten uns hier an
die Antwort Abrahams (und durch ihn Gottes Antwort) in
der Parabel vom Reichen und dem armen Lazarus erinnern:
»Sie haben die Worte des Moses und der Propheten. Sie
brauchen nur darauf zu hören« (Lk 16, 29). Er gibt uns
diesen Hinweis, denn jenes Wort Gottes ist wahr. »Dein
Wort ist die Wahrheit« (Joh 17, 17), bestätigt uns Jesus
Christus. Und diese Wahrheit, dieses Vermächtnis (Depositum)
des Alten Testaments hat die christliche Kirche
übernommen und bewahrt.
b) Ebenso wissen wir, daß Gott selbst auf die Erde »herabgestiegen"
ist, daß das Wort Gottes, Jesus Christus, »wie ein
Knecht« (Phil 2,7) gekommen ist und uns die Wahrheit,
die vollkommene, erneuerte Wahrheit gebracht hat; denn
Er ist
»der Weg und die Wahrheit und das Leben« (Joh 14, 6).
Aber um auf die menschliche Unvernunft hinzuweisen, sagt
er: »Íun aber sucht ihr mich zu töten, einen Menschen,
der ich euch die Wahrheit gesagt, die ich von Gott
gehört habe« (Joh 8, 40). Diese Wahrheit hat Er den
Aposteln übergeben und diese wiederum ihren Nachfolgern,
den Bischöfen der Kirche (die apostolische Überlieferung).
c) Nach der Auffahrt des Herrn in den Himmel sendet Gott
den Tröster, »den Geist der Wahrheit (Joh 14,16-17 und
15,26), auf die Kirche herab, der sie »in alle Wahrheit
führt" (Joh 16,13).
3. Die authentιschen »Zeugnisse«
Íun kann aber diese unfehlbare Urteilsinstanz nicht
ständig, etwa täglich, zusammentreten und Entschlüsse
fassen. Aber auch, wenn sie ununterbrochen tagte, wäre
es dennoch unmöglich, daß sie sich mit allen Themen
beschäftigte, daß sie in allen persönlichen
Angelegenheiten und privaten Problemen der
Kirchenmitglieder eine Antwort gäbe. Was sollen wir also
tun? Wie können wir bei jeder Frage, die uns beschäftigt,
wissen, was richtig ist? Æu diesem Zweck hat uns die
Kirche der Ökumenischen Synoden unfehlbare Glaubensund
Lebensregeln anvertraut, sowohl für die Theorie als auch
für die Praxis. Sie hat uns fürsorglich die unfehlbaren
Urteilsmaßstäbe übergeben, damit wir sie jederzeit zur
Verfügung haben, sie zu Rate ziehen können, wann immer
wir wollen, wann immer wir sie brauchen.
Diese unfehlbaren Kriterien sind die Bibel (ÁÔ und ÍÔ),
die heiligen Schriften und die Entscheidungen,
dogmatischen Bestimmungen (üñïé) und Kanones der
Ökumenischen Synoden, die von ihnen festgelegt und
bestätigt wurden.
Án diesem Punkt wollen wir, was die Entscheidungen der
Ökumenischen Synoden betrifft, einem Einwand vieler
Christen, die der Orthodoxen Kirche angehören,
zuvorkommen. Während sie nur zu gern bereit sind, die
dogmatischen Bestimmungen, die Symbole des Glaubens, als
unfehlbar zu akzeptieren, wehren sie sich dagegen, auch
die Kanones der Kirche als unfehlbar anzunehmen. Diese,
sagen sie, würden nicht die absolute Autorität der
dogmatischen Bestimmungen besitzen.
Darauf ist folgendes zu antworten: Die Begriffe »Bestimmungen«
und »Êanones« werden in den Beschlüssen der Ökumenischen
Synoden oft wechselnd gebraucht und ergänzen einander.
Diese Tatsache entkräftet alle Argumente, die sich für
eine scharfe Trennung zwischen Bestimmungen und Kanones
aussprechen. Außerdem ist es nicht einzusehen, daß eine
dogmatische Bestimmung unfehlbar sei, eine andere
Entscheidung, Lebensregel etwa, nicht, da doch beide vom
selben Organ, aus derselben Quelle, oft sogar von ein
und derselben Ökumenischen Synode stammen. Die
Ökumenischen Synoden selbst bestätigen uns, daß ihre
Kanones göttlich und authentisch sind. Deshalb ordnen
sie auch die unbedingte Einhaltung ihres gesamten
Inhalts an und verbieten jede Verfälschung und
Veränderung<3>.
Die Gesamtheit dieser unfehlbaren Kriterien macht somit
die kirchliche Überlieferung aus, die eigentliche und
wahre kirchliche Tradition. Denn sie ist die
Überlieferung der ganzen Kirche, nicht nur eines Teils
von ihr. Nicht alle Überlieferungen aber, die
möglicherweise in der Kirche vorhanden sind, verdienen
die Bezeichnung »kirchliche Überlieferung«. Das gilt
zumindest so lange, als sie nicht die Billigung und
Bestätigung der gesamten Kirche haben.
Aus diesem Grund verdienen nur jene Kanones die
Bezeichnung von kirchlichen Gesetzen, die von einer
Ökumenischen Synode erlassen oder bestätigt wurden, d.h.
von der ganzen Kirche. Alle anderen der kanonähnlichen
Verordnungen, die etwa von einer örtlichen Synode oder
einem Vertreter der Kirche erlassen wurden, können nicht
kirchliche Gebote (κανόνες) genannt werden, da sie nicht
die oberste kirchliche Zustimmung haben.
Die wahren Kanones, im wirklichen Sinne des Wortes
Kanones, die uns das Richtige, den rechten Weg
weisen<4>, sind nur die Kanones der Ökumenischen Synoden.
Alle anderen ähnlichen Verordnungen können nicht als
solche bezeichnet werden und verdienen diese Bezeichnung
nicht, solange sie nicht von einer Ökumenischen Synode
bestätigt werden.
Die oben angeführte offizielle und wahre kirchliche
Überlieferung stellt somit die Grundlage der Orthodoxie,
des rechten Glaubens, der Wahrheit, des Wissens und des
Lebens dar. Sie ist die »Genauigkeit« (áêñßâåéá) in der
Kirche. Sie müssen wir erkennen, ihre Dogmen glauben,
ihre Kanones anwenden und diese Wahrheit im Leben
verwirklichen. Mit anderen Worten, diese áêñßâåéá haben
wir einzuhalten, zu bewahren, ihr müssen wir folgen.
Sie stellt auch das Kriterium dar, wonach Gedanken,
Ideen, Worte und Handlungen, und unser und anderer Ôun
und Leben zu beurteilen sind, wenn man so objektiv wie
möglich sein will. Andernfalls gerat man in die Gefahr,
in Ungerechtigkeit und Subjektivismus zu verfallen,»
aufgeblasen in seinem fleischlichen Sinn« (Êï1 2,18).
Und wenn wir sagen, daß wir mit ihrer Hilfe über Worte
und Taten der anderen urteilen, so meinen wir nicht nur
die des einfachen Volkes und der einfachen Christen,
sondern auch die der Priester und Hierarchen, des
Patriarchen, aller Lebenden und aller Verstorbenen also.
4. Erweiterung und Durchforschung
Natürlich bedarf es hier noch einer notwendigen
Erläuterung: Wenn wir sagen, daß diese Texte, diese
Kriterien, diese »Zeugnisse« <5> authentisch und
unfehlbar sind, und daß sie die wahre Überlieferung und
die áêñßâåéá innerhalb der Kirche darstellen, so heißt
das nicht, daß alle anderen falsch seien. Noch viel
weniger bedeutet es, daß alle Werke und Schriften der
Kirchenväter, der Bischöfe, der Asketen, der Theologen
und der einfachen Christen wertlos sind. Sie können
Fehler enthalten, aber sie sind als Ganzes nicht falsch.
Darüber hinaus können sie auch unfehlbar sein, nur
besitzen wir nicht die Gewißheit, daß sie unfehlbar sind.
Denn wir haben dafür nicht die Garantie einer
Ökumenischen Synode, die das authentische Sprachorgan
der Kirche ist.
Würden wir wiederum behaupten, daß alle Meinungen und
Beschlüsse der Kirchenväter unfehlbar sind, gerieten wir
in die Gefahr, uns dem römischen Katholizismus zu nähern
und würden, unwissentlich, ohne es zu wollen, Argumente
für die Unfehlbarkeit des Papstes beisteuern. Mit Recht
könnte dann konsequenterweise ein Katholik bemerken:
Warum sollen wir die Unfehlbarkeit der Meinungen
einzelner Kirchenväter akzeptieren und nicht auch die
Unfehlbarkeit des Papstes von Rom?
Sie sind also fehlbar, bzw. solche Schriften von
Vertretern der Kirche oder von Heiligen können
Interpretationen der Çl. Schrift sein, Analysen von
Glaubensdogmen, Interpretationen der Kanones bzw.
Anleitungen zu ihrer Anwendung, wie auch Erfahrungen und
Erlebnisse des kirchlichen Lebens in Christus. Auch sie
stellen Überlieferungen dar, aber es ist nicht die
Überlieferung, die authentische, der Kirche, weil sie
nicht die Bestätigung der ganzen Kirche besitzen.
Derartige Überlieferungen können auch die Meinungen
unserer Priester sein, oder Gebote und Erlasse unserer
Bischöfe oder unserer Çl. Synode. Sind sie auch
verpflichtend? Oder kann man sie einfach übergehen?
Natürlich sind sie bindend, sofern sie nicht zur Çl.
Schrift in Widerspruch stehen, oder zu den
Entscheidungen der Ökumenischen Synoden und somit der
authentischen Kirchentradition, wenigstens so lange, bis
wir das Gegenteil bestimmt wissen. Paulus verkündet: »Gehorcht
euren Lehrern und folgt ihnen; denn sie wachen über eure
Seelen, als die, die da Rechenschaft dafür geben sollen.«
Wenn wir aber genau wissen, daß diese Meinungen oder
Gebote im Widerspruch zur Überlieferung der Kirche
stehen, so sind wir verpflichtet, dies auf angebrachte
Weise und mit dem nötigen Respekt unseren Priestern und
geistigen Führern zu sagen, sie also darauf hinzuweisen,
daß sie fehlgehen, daß sie der orthodoxen Überlieferung
widersprechen, und daß wir solchen menschlichen
Anweisungen und Geboten nicht gehorchen und folgen
können. Das Generalbeispiel dafür gaben uns die Apostel,
indem sie sagten: »Ìan muß Gott mehr gehorchen als den
Menschen« (Apg 5,29).
Es gibt aber einen speziellen Fall, in dem wir
verpflichtet sind, ihnen zu folgen oder zumindest sie zu
tolerieren und auch nicht zu kritisieren, obwohl die
Entscheidungen der zuständigen Kirchenorgane nicht in
Übereinstimmung mit der kirchlichen Überlieferung, d.h.
der »Akribeia« stehen. Dieser Fall ist dann gegeben,
wenn das zuständige kirchliche Organ von der kirchlichen
Überlieferung, von der Akribeia in nicht-dogmatischen
Fragen zugunsten der Rettung eines Gliedes oder eines
Teils der Kirche oder der menschlichen Gesellschaft
abweicht. Dieser Fall liegt vor bei der Anwendung der
kirchlichen ïéêïíïìßá, der Nachsicht und Milde. Wenn
also ein Mitglied oder ein Teil der Kirche an seinem
Glauben, seiner Seele oder seinem Leib Schaden erleiden
würde oder eine Sünde bitter bereut, verlangt die Kirche
nicht immer die Einhaltung der Akribeia in der
Einhaltung der Gebote und ihrer Kanones, sondern sie
erweist sich menschenliebend und milde.
Es gibt jedoch auch Fragen, über die es keine offizielle
Stellungnahme der Kirche gibt und zu denen auch die
geistigen Führer der Kirche nicht speziell Stellung
genommen haben. Dazu ist folgendes zu bemerken: Erstens
ist es nicht nötig, daß wir zanken und streiten. Es
genügt, darüber zu diskutieren und mit Gebeten und in
Demut den Weg zu bereiten, damit einige Glieder der
Kirche von Gott erleuchtet werden, so daß die Kirche
selbst daraufhin auch zu diesen Fragen eine authentische
Entscheidung treffen kann. Anläßlich eines solchen Falls
können wir ebenfalls ermessen, wie wertvoll das übrige
kirchliche Schrifttum ist, die Meinungen der Väter, die
Interpretation der Theologen, die Erfahrungen und die
Erlebnisse der Asketen und aller Christen. Denn in ihnen
kann die Antwort zu einem Problem enthalten oder
verborgen sein, der es kann durch sie eine Frage, die
die Kirche beschäftigt, ihre Lösung finden.
Dazu ist freilich Geduld notwendig: ȃn eurer Geduld
werdet ihr eure Seelen gewinnen« (Lk 21,19), sagt der
Herr. Wir brauchen nicht hin und hergerissen werden von
verschiedenen persönlichen Meinungen kirchlicher
Vertreter, die einander oftmals widersprechen. Ebenso
ist es nicht nötig, uns darüber orgen zu machen und ins
Schwanken zu geraten; denn wir müssen wissen, daß dort,
wï kein Gesetz ist, auch kein Gesetzesbruch, keine
Übertretung und eine Sünde sein können. Sagt doch der
Apostel Paulus: »Aber wï kein Gesetz ist, da achtet mán
der Sünde nicht« (Röm 5,13), und: »Aber die Sünde
erkannte ich nicht, außer durchs Gesetz ... denn ohne
das Gesetz war die Sünde tot«Röm 7, 7-8). Én den Fragen,
für die es kein Gesetz gibt, steht es uns frei, nach der
Stimme unseres Gewissens (siehe Röm 2, 14-15) bzw. nach
den Ratschlägen zweier oder dreier gewissenhafter
Christen zu handeln. Vgl. Mt 18,20: »Denn wï zwei oder
drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten
unter ihnen.« Vgl. auch 1 Kor 6,1 : »Wisset ihr nicht,
daß die Heiligen die Welt richten werden?«
5. Einige notwendige Årgänzungen
Dies bedeutet nun aber nicht, daß dort keine Freiheit
bestünde, wo es kirchliche Gesetze, heilige Regeln,
biblische Gebote gibt. Diese Gebote und Kanones sind,
wie wir bemerkten, unfehlbare Zeugnisse Gottes. Folglich
sind sie ein Teil der Wahrheit, sind Wahrheit. Und da
sie wahr sind, tragen sie unzweifelhaft zur Freiheit des
Menschen bei. Das bestätigt uns auch der Herr, wenn er
sagt: »So werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die
Wahrheit wird euch frei machen« (Joh 8,32). (Vgl. auch
den Ausspruch des Apostels Jakobus vom »vollkommenen
Gesetz der Freiheit« [Jak 1,25]).
Tatsächlich trennen wir uns durch die Anwendung der
kirchlichen Gebote innerhalb der Kirche und mit Hilfe
der Kirche vom Irrtum und werden zur Wahrheit, zur
Vollkommenheit, zur Heiligkeit, zur Vergottung
hingeführt: Je vollkommener und heiliger der Mensch wird,
je mehr er das Fleisch und die menschlichen Gelüste
überwindet, um so mehr übersteigt er die materielle
Íatur und die Gesetze der Natur. Je vergeistigter er
wird, um so einfacher und leichter kann er sich
gegenüber der Materie durchsetzen, und um so mehr
erlangt er folglich die Freiheit. Darum sagt der Apostel
Paulus: »Der Herr ist der Geist; und wï der Geist des
Herrn ist, da ist Freiheit" (2 Kor 3,17).
Bevor wir jedoch das Thema abschließen, sollten wir mit
Rücksicht auf das bisher Gesagte vielleicht einige
notwendige Unterscheidungen vornehmen und gleichzeitig
auch die angemessenen Vorschläge machen. Wie oft sagen
wir, dieser Mensch sei konservativ, jener
traditionsverhaftet, der andere vielleicht
fortschrittlich und der vierte freiheitlich gesinnt usw.
Verwenden wir diese Begriffe eigentlich richtig oder
herrscht da Verwirrung hinsichtlich ihrer Verwendung?
Zum Beispiel nennen wir denjenigen konservativ, der die
Tradition bewahrt. Aber ist es nicht besser, ihn als
traditionsverbunden zu bezeichnen? Andererseits
bezeichnen wir oft traditionsverbunden, die alle
Überlieferungen der Kirche bewahren möchten, die
authentische, d.h. kirchliche Überlieferung, wie die
verschiedenen anderen, nicht offiziell anerkannten
Überlieferungen. Aber ist es richtig, diese
traditionsverbunden zu nennen, oder sollten wir sie
nicht einfach<6> als konservativ bezeichnen?
Wiederum heißen wir denjenigen freiheitsliebend, der die
Tradition nicht bewahren will oder auch jenen, der nur
einige Überlieferungen annehmen, die übrigen aber
verwerfen will. Sollten wir nicht eher den
Traditionsverbundenen als freiheitsliebend bezeichnen (siehe
wörtliche Bedeutung des griechischen φιλελεύθερος =
Freund der Freiheit), also jenen, der die wahre (authentische)
Überlieferung, die Wahrheit also, die frei macht, die
ihm die wahre Freiheit schenkt, mit offenen Armen
annimmt und sich ihr unterwirft? Wir meinen jedenfalls,
daß nicht diejenigen freiheitsliebend genannt werden
können, die die authentische Überlieferung verwerfen,
die vom rechten Weg, nämlich dem Weg der Wahrheit,
abkommen und menschlichen Überlieferungen und Geboten
folgen, die nicht zur Erlangung der tatsächlichen
Wahrheit führen und demnach nicht helfen, die wirkliche
Freiheit zu erringen.
Aus dem gleichen Grund können die Traditionsverbundenen
auch als fortschrittlich charakterisiert werden. Denn,
weil sie die Verquickung mit menschlichem Beiwerk
ablehnen und immer auf dem Grund der authentischen
Überlieferung stehen, können sie aus der neueren
wissenschaftlichen Forschung das übernehmen, was der
besseren Deutung und einem umfassenderen Verständnis
dieser Wahrheit dient.
Umgekehrt können nicht jene als fortschrittlich
bezeichnet werden, die zusammen mit den menschlichen
Traditionen auch die authentische Überlieferung der
Kirche verwerfen und das Richtige ohne Führung, ohne
objektive Kriterien, ohne unfehlbare Grundsätze suchen
wollen. Es ist sehr zu bezweifeln, daß diese vorwärts
schreiten, folglich auch, daß sie den Namen »fortschrittlich«
verdienen.
Auf solche Weise können wir überlegen, beurteilen und
entscheiden, in welcher Weise wir jeweils einen der oben
erwähnten oder ähnliche Begriffe verwenden.
Sofern wir als Orthodoxe dem obigen Standpunkt zustimmen
und ihn annehmen, können wir damit auch unsere
Beziehungen zur Welt außerhalb der Orthodoxie überprüfen,
ja darüber hinaus, auch die Lehren verschiedener anderer
kirchlicher und nichtkirchlicher Bekenntnisse.
Im Falle der römisch-katholischen Kirche z.B. die Lehre,
daß der Çl. Geist auch vom Sohn ausgeht (filioque).
Dieses Dogma steht im Widerspruch zur Heiligen Schrift,
die eindeutig vom »Geist der Wahrheit« spricht, der »vom
Vater ausgeht« (Joh 15,26), und zu Entscheidungen der
Ökumenischen Synoden. Folglich muß man verstehen, daß
diese dogmatische Lehre von der Orthodoxen Kirche nicht
angenommen werden kann.
Die Katholiken akzeptieren auch, wie wir wissen,
zumindest theoretisch, die Unfehlbarkeit des Bischofs
von Rom, des Papstes, die Unfehlbarkeit also
eines Menschen. Da sich dieses Dogma nicht auf die
Entscheidungen einer Ökumenischen Synode stützt, also
nicht auf die authentische Überlieferung der Kirche, und
da es auch unmöglicl ist, daß ein Mensch unfehlbar ist -
wie wir zu Beginn der vorliegenden Studie festgestellt
haben -, kann auch dieses Dogma von einem orthodoxen
Christen nicht toleriert werden.
Neben der römisch-katholischen Kirche gibt es die
verschiedenen protestantischen Bekenntnisse, die die
Meinungen, Ansichten oder Anweisungen ihrer heutigen
Theologen als authentisch annehmen, aber
gleichzeitig,die kirchliche Überlieferung ablehnen. So
stellt sich die naheliegende Frage: Welches unfehlbare
Kriterium haben sie für die Annahme der einen und die
Ablehnung der anderen? Verstricken sie sich damit nicht
in einen grenzenlosen Subjektivismus? Und gibt es
vielleicht gerade aus diesem Grund so viele Formen des
Protestantismus? Wo und in welcher befindet sich das
objektiv Richtige? Welche besitzt die Wahrheit?
Einem logischen Fehler erliegen auch diese
protestantischen Gruppen, die sich auf die Heilige
Schrift stützen (wie sie behaupten), um ihre Lehren zu
bestätigen, während sie die kirchliche Überlieferung
ablehnen. Hat uns aber nicht die Kirche die Çl. Schrift
bewahrt und übergeben? War es nicht die Kirche, die die
Bücher der Çl. Schrift ausgewählt und sie aus der Menge
anderer verfälschter, nicht kanonischer Bücher
ausgesondert und herausgehoben und uns als göttlich und
authentisch übergeben hat? Çat nicht sie den »Êanon« der
Çl. Schrift erstellt? Folglich erscheint es paradox und
unlogisch, diese Bücher der Çl. Schrift anzunehmen, die
kirchliche Überlieferung aber nicht, durch die uns doch
die Çl. Schrift übermittelt wurde. Wir nehmen die
Früchte, aber nicht den Baum an, der uns diese Früchte
schenkt!
6. Nachwort - Wunsch
Abschließend möchten wir wünschen, daß unsere
Ausführungen über die authentische Überlieferung der
Kirche dazu beitragen können, verschiedene Ideale und
Ansichten zu überprüfen, daß sie zur Verständigung und
damit zur Einigung der immer noch geteilten Christenheit
beitragen. Dafür erhoffen wir den Segen Gottes.
NOTES
1.- Verfasser ist Professor an der Theologischen
Fakultät der Universität. Ziel seines Beitrags ist es,
das orthodoxe Verständnis der kirchlichen Paradosis zu
vermitteln und einige Konsequenzen daraus für den
ökumenischen Dialog aufzuzeigen. Anm. der Red.
2.- »Jenseits der organischen Rangfolge und obersten
Verwaltungsstelle der Orthodoxen Kirche, welche die
Ökumenische Synode ist, hat das wahre kirchliche
Gewissen die letzte Entscheidungsgewalt über deren
ökumenische Autorität, ohne über dem Rang der
Ökumenischen Synode zu stehen« (Á. Alivisatos, Das
Gewissen der Kirche, in: Wiss.Jahrbuch der Theol.Fak.
der Univ. von Athen, 9 [1953-1954] 58-59). «Der
ökumenische Charakter der Synode besteht nicht in der
Teilnahme aller Bischöfe der christlichen Gemeinschaft,
sondern in der Übereinstimmung der anwesenden, der
vertretenen mit den abwesenden Bischöfen und den
verschiedenen Gliedern der Kirche, wie auch in der
nachträglichen Annahme ihrer Lehren von den übrigen
Bischöfen und der ganzen Kirche, die als wahr befunden
wurden" (Joh. Karmiris, Orthodoxe Ekklesiologie,
Dogmatik, Teil V, Athen 1973, S.674).
3.- Siehe Êan.1 der 4., Êan.2 der 6., und Êan.1 der
7.Ökum.Synode. Mehr dazu: P.Boumis, Autorität und Kraft
der hl.Kanones, Athen 1989<4>, S.12 f.
4.- Das griechische Wïrt für Regel »κανών" bedeutet
ursprünglich: Stab; Lineal, mit dem wir eine gerade
Linie ziehen, oder umgekehrt die Geradheit einer Linie
überprüfen. Im übertragenen Sinn bezeichnet das Wort
auch Bestimmung oder Gesetz, allgemein alles, was als
Vorbild oder Leitfaden zur richtigen Ausführung einer
Handlung dient, oder als Kriterium zur Kontrolle ihrer
Richtigkeit.
5.- Vgl.Ps. 118, 14. 138. 144. Siehe auch Êan.1 der
7.Ökum.Synode.
6.- Natürlich hat das Wort »einfach« hier nicht die
Bedeutung einer Mißbilligung des Konservativen.
Konservativ sind, wie wir gesehen haben, jene, die alle
in der Kirche vorhandenen. Überlieferungen bewahren
wollen. Aber diese Tendenz muß mit Vorsicht betrachtet
werden, weil sie zwei widersprüchliche Elemente in sich
birgt: ein positives und ein gefährliches. Positiv ist,
daß sie alle schriftlichen und mündlichen
Überlieferungen bewahren will, in denen zum gegebenen
Zeitpunkt die Kirche die Lösung eines Problems finden
kann, oder zumindest den Ánstïß zu einer solchen Lösung.
Sie schließt aber auch die Gefahr in sich, den Menschen
zu überfordern; denn sie will das ganze Gewicht dieser
Überlieferungen tragen. So geschieht es manchmal, daß
diese Überlieferungen in Widerspruch zueinander geraten,
daß sie Christen erschüttern und Ánstïß erregen.
Verlassen wir also den Anspruch, daß diese
Überlieferungen unbedingt und ausnahmslos von allen
Christen befolgt werden müssen; denn damit würden »schwere
und untragbare Gewichte auf die Schultern der Menschen«
(vgl. Mt 23, 4) gelegt.
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